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Moderne Utopie: Das maoistische Dorf Nanjie
2016-12-28
 

Ein Dorf in Henan ist seit Jahren ein Fanal der Ideale von Marx und Mao. Zur Schaffung einer kommunistischen Gemeinschaft ist der meiste Besitz kollektiviert und die Bewohner arbeiten zusammen am gemeinsamen Wohlstand. 

Der 65-jährige Wang Hongbin hat eine beeindruckende Vision: den Aufbau einer kommunistischen Gemeinschaft, die Güter und Dienstleistungen nach dem Marxschen Ideal „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ zuteilt. Wang ist seit 1977 der Sekretär der Kommunistischen Partei im Dorf Nanjie und setzt alles daran, seinen Traum zu verwirklichen.

Ein 16-stöckiges Wohngebäude steht am Rande des Dorfes in der zentralchinesischen Provinz Henan. Der Innenausbau soll nächstes Jahr beendet werden. Die Gesamtkosten des Gebäudes, welches 2018 fertiggestellt werden soll, liegen bei 200 Millionen Yuan (27,53 Millionen Euro).

„Wenn du in die ‚proletarischen Wohnungen’ einziehen möchtest, brauchst du nur deinen gesamten Besitz abzugeben“, erklärt Wang. Das Gebäude kann 800 Dorfbewohner beherbergen und bietet auch eine rund um die Uhr geöffnete Kantine. Kleidung, Schuhe, Kosmetik und sogar Schmuck sollen – nach Sterilisation – von allen geteilt werden.

„Wir werden Top-Marken auswählen und jedermanns Bedürfnisse befriedigen“, verspricht Wang, der in den nächsten zehn Jahren plant, alle der 3.700 Einwohner von Nanjie in seinen utopischen Klöstern unterzubringen.

In vielerlei Hinsicht ist Nanjie mehr Industriepark als Dorf. Viele junge Menschen in China zieht es auf der Suche nach Arbeit in die Städte. Doch die 26 Dorfbetriebe in Nanjie beschäftigen jeden, der eine Arbeitsstelle haben will. Das Dorf besitzt nur 33 Hektar Ackerland, was bei weitem nicht für die Versorgung der Bewohner ausreicht. Nur 21 Menschen im Dorf arbeiten auf den Feldern zwischen den Fabrikgebäuden.

Langlebige Ideale 

In den 1980er Jahren kam der Wohlstand nach Nanjie – in Form von Bier, Schokolade, Mehl, Fertignudeln, Alkohol, Medizin und Gewürzen. Zu dieser Zeit wurden – wie im restlichen ländlichen China – Volkskommunen aufgelöst und eine wirtschaftliche Öffnung betrieben. Kollektive Flächen wurden unter den Haushalten verteilt und Fabriken von Einzelpersonen übernommen. Nicht lange danach waren Bankrotterklärungen an der Tagesordnung.

Das Dorfkomitee übernahm 1984 und 1986 zwei Fabriken und kollektivierte abermals alles Ackerland, baute die Industrie aus und versorgte die Bewohner.

Der Erfolg kam schnell und brachte erst kostenlose Wasser- und Stromversorgung mit sich, dann Kohle, Gas, Fleisch, Eier, Mehl und schließlich Bildung. In den frühen 1990er Jahren war das dörfliche soziale Sicherungssystem komplett. Sogar Steuern und Gesundheitsausgaben wurden gemeinschaftlich bezahlt. 1991 wurde Nanjie das erste Dorf in Henan mit Umsätzen von 100 Millionen Yuan (13,79) und die Anzahl der Betriebe im Dorf stieg auf 19. 2015 erwirtschaftete Nanjie zwei Milliarden Yuan (275,35 Millionen Euro), davon 150 Millionen Yuan (20,65 Millionen Euro) Gewinn.

„Eine Kollektivwirtschaft ist der unausweichliche Weg hin zum gemeinsamen Wohlstand und das Fundament für die Lösung der ‚Drei Ländlichen Problemfelder‘“, erklärt Wang Hongbin. Die „Drei Ländlichen Problemfelder“ bezeichnen die Herausforderungen bei der Modernisierung der Landwirtschaft, der Entwicklung ländlicher Gebiete und der Verbesserung der Lebensqualität der dortigen Bevölkerung.

Obwohl Nanjie nicht das einzige Dorf mit kollektiver Wirtschaft darstellt, ist seine Vermögensverteilung bemerkenswert. Mehr als 300 Dorfbewohner, meist Kader und Führungskräfte der Fabriken, erhalten einen Monatslohn von lediglich 250 Yuan (rund 34,50 Euro) was in Beijing oder Shanghai noch nicht einmal für einen familiären Restaurantbesuch ausreichen würde. Die meisten Fabrikarbeiter verdienen 2.000 Yuan (rund 276 Euro) im Monat. Die örtlichen Einkommen setzen sich aus 30 Prozent Geld und 70 Prozent Vergünstigungen zusammen.

Wangs Plan ist es, die monetäre Vergütung nach und nach zu reduzieren. „Am Ende wird der private Besitz und die Güterverteilung unausweichlich den individuellen Bedürfnissen entsprechen. Die Motivierung durch Geld wird vergehen. Eine große philosophische Verpflichtung ist der Schlüssel dazu.“

Wessen Utopia? 

Sheng Ganyu war einst ein Beamter im Bezirk Xiangcheng in Henan und kam 1994 nach Nanjie, nachdem er eine Dokumentation über das Dorf gesehen hatte. Er ist Chefredakteur der Dorfzeitung und wurde 1996 zum Ehrenbürger ernannt. Dadurch genießt er alle Vergünstigungen der alteingesessenen Anwohner. Rund 1.000 von solchen „Ehrendörflern“ leben in Nanjie.

Sheng verdient ebenfalls nur 250 Yuan im Monat. Doch wenn er wirklich Geld braucht, kann er es im Dorfkomitee beantragen. Auf diese Weise hat sein Sohn, der Film- und Fernsehproduktion studiert, eine professionelle Kamera und einen Computer für mehr als 20.000 Yuan (rund 2.760 Euro) erhalten.

Nanjie scheint ein Ort zu sein, an dem Milch und Honig fließen. Doch das Leben für die mehr als 6.000 Wanderarbeiter im Dorf gestaltet sich etwas anders. Ding Xiaohui arbeitet seit 2008 in einer Nudelfabrik in Nanjie. Sie träumt davon, als echte Dorfbewohnerin registriert zu werden, aber diese Praxis wurde 2003 beendet. Ding verdient 2.000 Yuan im Monat, jedoch ohne kostenlose Verpflegung oder Unterkunft zu erhalten wie die alteingesessenen Anwohner.

Obwohl es von vielen als eine utopistische Gemeinschaft angesehen wird, gibt Wang Hongbin zu, dass die Ausbeutung von Arbeitskraft im strengen marxistischen Sinne auch in Nanjie noch existiert.

„Die Ausbeutung von Arbeitskräften aus anderen Dörfern ist nur vernünftig während des Übergangs vom kollektiven Kapitalismus zum Kommunismus“, versichert Wang. Er hegt keinen Zweifel daran, dass die kommunistische Gemeinschaft noch zu seinen Lebzeiten realisiert werden kann.

 
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